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Bestimmung des Menschen

Der Mensch hat Aufgaben im Leben zu erfüllen. An erster Stelle kommt die Familie und dann der Beruf, dem man gewissenhaft nachkommen soll, um im Leben vorwärts zu kommen. Es gibt aber auch Pflichten die z.B. den Staat anbetreffen; zumindest solange der Staat einer demokratischen Verfassung unterliegt.

Eine innere Entwicklung zu fördern, die den Menschen zur höchsten Vollendung antreibt, ist die eigentliche Aufgabe der Freimaurerei. Darin liegt ihr wahres Wesen. Es ist anzunehmen, dass die Freimaurerei keine Wahrheit kennt, die nicht auch außer ihr zu finden wäre, denn die Wahrheit ist nur eine und das Streben nach ihr sollte keinem Menschen verschlossen bleiben. Der Weg aber den die Freimaurerei anbietet, ist ein eigentümlicher und ein besonderer Weg. Nur derjenige kann auf ihn geführt werden, der Eifer zeigt, ihn zu gehen, und der Vertrauen in seine Hüter setzt.

Die Wissenschaft (natura) sucht u.a. das Unbekannte zu ergründen und das Verborgene aufzudecken. Alles, was ist, wird von ihr untersucht und in seinen Ursachen sowie in seinem Zusammenhang erforscht. Sie geht von der äußeren Erscheinung der Dinge aus, sie ordnet und sichtet, und indem sie vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreitet, stellt sie Naturgesetze auf. Ihr Werkzeug ist der Verstand, vor dem alles bestehen muss und vor dessen unerbittlicher Logik nur die Wahrheit standhalten kann. Sie kann aber das Sehnen des Menschen nach Licht und Wahrheit nicht voll befriedigen, denn ihrem Vordringen sind Grenzen gesteckt. Menschliches Wissen ist Stückwerk und der forschende Mensch ist dem Irrtum unterworfen. Sie sucht in die Tiefen vorzudringen, um den Urgrund alles Seins zu ergründen aber bis dahin ist noch kein Forscher vorgedrungen. Wir sehen also, dass die Wissenschaft für sich allein nicht befriedigen kann.

Der Glaube (religio) führt uns hingegen auf ein Gebiet, das die Wissenschaft nicht betreten kann. Was die Wissenschaft vergebens zu ergründen sucht davon geht der Glaube als von etwas Gegebenem, unbedingt Vorhandenem aus und nennt es »Gott«. In dem höchsten Wesen findet sie den Urgrund alles Seins. Der Glaube geht davon aus, dass jeder Mensch imstande sei, Gott in sich zu finden und zu erfassen. In dogmatischen Satzungen, welche das Wesen der Konfessionen ausmachen, liegt aber auch zugleich die Schwäche des Glaubens, denn kein einziges kirchliches Lehrsystem kann vollkommen sein, weil alle von Menschen aufgestellt wurden. Darum ist es so unendlich schwer, Glaubenssätze aufzustellen, die für alle passen. Wovon der einfache, schlichte Mann ausgeht, weil seine Väter schon daran festhielten, das sieht der gelehrte Denker mit zweifelnden Blicken an. Wir sehen also, dass auch der kirchliche Weg nicht ganz befriedigt.

Die Freimaurerei (fortitudo) hat mit Wissenschaft und Glauben etwas gemeinsam. Von der Wissenschaft hat sie den streng logischen und folgerichtigen Aufbau ihrer Lehren und das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis. Vom Glauben hat sie den festen Untergrund, d.h. das Gottesbewusstsein. Der Glaube an eine höchste Intelligenz, in der alles seinen Ursprung hat und alles ruht, scheint tief in der menschlichen Natur begründet zu sein. Anstatt aber auf diesem Grunde ein dogmatisches Lehrgebäude aufzurichten, geht die Freimaurerei ganz anders vor. Nicht Satzungen stellt sie auf, die geglaubt werden sollen, sondern geistige Arbeit, durch die sie mit den ihr eigentümlichen Mitteln anleitet, zunächst jenes feste Fundament in sich zu finden und freizulegen, dann aber auf ihm in freier Geistestätigkeit, mit ihren Werkzeugen und Methoden, sich selbst auszubauen und zu gestalten. Auf diese Weise wird ein inneres Leben im Freimaurer erweckt, das ihn wie ein Feuerstrom durchflutet, erleuchtet, reinigt, heiligt und der Bestimmung des Menschen entgegenführt.

Keinem, der an die Pforte einer Freimaurerloge klopft, sollte verschwiegen werden, dass schwere und strenge Arbeit ihn erwartet. Diese innere, nie zu unterbrechende Arbeit fällt genau zusammen mit der Botschaft von Johannes dem Täufer, der gleichsam Schutzpatron der Freimaurerei ist. Johannes legte darauf den größten Nachdruck, dass eine innere Wandlung im Menschen vorgehen müsse. Diese Wandlung wollte er einleiten und nutzte dafür das Sinnbild der Wassertaufe, durch die er die Seele zunächst reinigte und vorbereitete für die Taufe mit Feuer und Geist. Sein Name wird von Freimaurern nicht nur geführt, weil die mittelalterlichen Bauhütten, in welchen viele einen Ursprung der Freimaurerei erblicken, den Täufer zu ihrem Schutzpatron erkoren hatten, sondern weil seine Lehre sich aufs innigste mit der Lehre der Freimaurerei berührt. Diese Lehre von der inneren Wandlung muss der Freimaurer-Lehrling zuerst als notwendig anerkennen, ehe er an die Arbeit gehen kann.